Öffnungszeiten
Montags bis Freitags
8:00 – 12:00 Uhr
Mittwochs
14:00 – 18:00 Uhr
Donnerstags
14:00 – 16:30 Uhr
(nur Bürgerbüro)

Eine äußerst spannende Geschichte

Die Gebietsreform in Hessen und die Entstehung der Großgemeinde Künzell

... eine äußerst spannende Geschichte

Der Künzeller Prof. Dieter Wagner (verstorben am 11.11.2019) hat im Juli 2007 das von ihm miterlebte Thema zu Papier gebracht und seine Gedanken hierzu der Nachwelt hinterlassen. Eine Zusammenfassung aus den Aufzeichnungen unterbrochen durch Ergänzung weiterer Fakten lesen Sie nachfolgend:

 

„Die Ausweitung der öffentlichen Aufgaben, die Tendenz zu immer detaillierteren Vorschriften und die häufigen Änderungen der Gesetze und Vorschriften stellten die Kommunalverwaltungen … vor immer weiter wachsende Anforderungen. Ihr Geldbedarf stieg, und sie benötigten zunehmend spezialisiertes Personal. Vor allem kleinere Gemeinden waren damit überfordert.“ (Quelle: Kretschmer: Gebiets- und Verwaltungsreform a.a.O., 362.)

 

In diesen objektiven Fakten liegen die Wurzeln der allgemeinen Reformnotwendigkeit. Tendenziell sollte – so die Vorstellungen – die Zahl der Verwaltungsebenen verringert, die Verwaltungsbezirke dagegen und die dafür zuständigen Verwaltungen vergrößert werden. Man glaubte nämlich, größere Verwaltungseinheiten seien leistungsfähiger und effektiver als mehrere kleinere. Überdies erwartete man Einsparungen vor allem im Personalbereich. Die Bürgernähe spielte nur eine untergeordnete Rolle.

 

Speziell in Künzell stellte man sich folgende Fragen:

  • Wie bequem bzw. unbequem ist die neue Verwaltung zu erreichen?
  • Welchen Namen soll die zukünftige Großgemeinde tragen?
  • An welchem Ort soll die kommunale Verwaltung angesiedelt werden?
  • Welche Verwaltungen sollen in den ursprünglich selbständigen Gemeinden verbleiben?

 

Neben sachlichen Gründen drängte sich – vor allem nach dem Zusammenschluss zur Großgemeinde – auch verletzter Lokalpatriotismus in die politische Diskussion. Gerade die Großgemeinde Künzell kann davon „ein Lied singen“.

 

Der Beginn der Überlegungen zu möglichen Zusammenschlüssen in Hessen:

„Waren Gebietsveränderungen und Verwaltungsreformen in der zweiten Hälfte der 60er Jahren nur politische Gedankenspiele, zeichneten sich 1970 größere Veränderungen ab. Die SPD verlor bei der Landtagswahl am 8. November die absolute Mehrheit und musste mit der FDP eine Koalitionsregierung eingehen. Der kleinere Koalitionspartner setzte in der Koalitionsvereinbarung u.a. einen Passus durch, der die kommunale Gebiets- und Verwaltungsreform zum erklärten Ziel der zukünftigen Regierung machte. Hinzu kamen die erheblichen Stimmengewinne der CDU bei der Landtagswahl, so dass der politische Druck hinsichtlich der Reformbestrebungen verstärkt wurde. Statt eine umfängliche Verwaltungs- und Gebietsreform in Angriff zu nehmen, konzentrierte sich die Wiesbadener Regierung mit dem Vorschaltgesetz vom 4. Februar 1971 auf die Gebietsreform auf Kreisebene. Bei diesen Überlegungen spielten natürlich parteipolitische Aspekte eine nicht geringe Rolle. Man versuchte die Kreise so zuzuschneiden, dass Räume mit SPD-Dominanz erhalten bleiben konnten bzw. neu entstanden. Für den Kreis Fulda, der von der CDU dominiert wurde, sollte „das kommunalpolitische Einflussgebiet der Christdemokraten möglichst eng“ begrenzt werden. So wurde am 27. Januar 1971– aus wahltaktischen Gründen – der nördlich Teil des Altkreises Hünfeld dem Landkreis Hersfeld-Rotenburg zugeschlagen, der restliche Landkreis Hünfeld mit dem Landkreis Fulda zusammengeführt. Gegen eine Aufsplitterung waren CDU und die der CDU weltanschaulich nahestehende CWE – wenn auch mit unterschiedlichen Zielperspektiven. Während die Gebietsreform auf Kreisebene nachdrücklich von der Regierungspolitik in Wiesbaden bestimmt wurde, ergriffen die Landräte und Kreisverwaltungen die Initiative auf Gemeindeebene“ so Dieter Wagner.

 

Die Entwicklungen der Planungen im Einzugsbereich der heutigen Gemeinde Künzell:

In der Fuldaer Zeitung vom 14. März 1970 wurde ein Plan abgedruckt, in dem eine „geplante Großgemeinde Florenberg“ aus den Gemeinden Bronnzell, Edelzell, Engelhelms, Pilgerzell, Künzell, Keulos und Dirlos mit ca. 12.000 Einwohnern bestand. Diese Gemeinde hätte über eine größere Fläche verfügt, als es für die Stadt Fulda vorgesehen war. Parallel war im Osten der Stadt die „Großgemeinde vor dem Rauschenberg“ mit den Gemeinden Petersberg, Lehnerz und Niesig und gemeinsamen 7.000 Einwohnern im Gespräch.

Dieter Wagner schrieb dazu:

„Grundlage der Überlegungen für die Gemeinde Florenberg war die Tatsache, dass der Florenberg für alle diese Gemeinden jahrhundertelang kirchlicher, kultureller, geschichtlicher und geographischer Mittelpunkt war. Das hätte bedeutet, dass alle Gemeinden ihre Selbstständigkeit aufgeben würden, alle Vermögenswerte und Verbindlichkeiten von jedem Ortsteil wären dann in die neue Gemeinde Florenberg eingeflossen. Rechtsgrundlage war ein so genannter Auflösungsvertrag. In zentraler Lage, in unmittelbarer Nähe des Florenberges, war ein neuer Verwaltungskomplex geplant.

Bereits im Dezember 1970 stellte Landrat Dr. Stieler seine „Modellplanung“ für die territoriale Gliederung des Kreisgebietes vor. Diese folgte einer Vorgabe des Innenministeriums aus dem Jahre 1969 und sah die Bildung von 21 Gemeinden vor, die in „Gemeindegruppen“ zusammengefasst werden sollten. Nicht die besondere Qualität der innerministeriellen Vorgabe war der Grund, sich darauf zu berufen, sondern wohl schlicht und einfach deren frühes Erscheinen. Im Landkreis Fulda wurde schließlich als Grobstruktur für die anstehenden territorialen Veränderungen das Modell der Gemeindegliederung realisiert. Freilich lief dies nicht ohne Zwistigkeiten ab. Als schließlich der Innenminister im Februar 1971 nachzog, folgte er für den Landkreis Fulda dem Vorschlag des Landrates. Das darauffolgende Anhörungsverfahren wurde am 10. Januar 1972 abgeschlossen.“

Parallel zu den Vorbereitungen einer gesetzlich verordneten Neugliederung liefen die bereits früher begonnenen Bemühungen um freiwillige Zusammenschlüsse von Gemeinden weiter. In der Gemeinde Künzell gab es bereits ein neugebautes Verwaltungsgebäude mit einer entsprechenden Ausstattung, die von einer neuen Großgemeinde genutzt werden konnte. Auch eine neue und moderne Schule war bereits gebaut. Die kleineren Gemeinden im Osten des Gebietes sahen darin einen Vorteil und signalisierten Ihre Zustimmung zur Eingemeindung.

Die Stadt Fulda warb zwischenzeitlich bei allen Gemeinden bezüglich einer Eingliederung in die Stadt Fulda, welchem Bronnzell und Edelzell auch folgten. Anfang 1972 standen die Bürger von Engelhelms dieser Idee auch näher, da mittlerweile die Neugründung einer Großgemeinde Florenberg durch die bereits geschlossenen Eingemeindungen in die bestehende Gemeinde Künzell praktisch nicht mehr umsetzbar war. Die Verantwortlichen in Engelhelms sahen jedoch in dem Zusammenschluss mit Künzell mehr Vorteile und entschieden sich gegen den Willen der meisten Einwohner und den des Oberbürgermeisters von Fulda.

Die formale Gründung der Großgemeinde Künzell war mit Wirkung zum 31. Dezember 1971 bzw. zum 1. April 1972 abgeschlossen. Endgültig gehörten die ehemals selbständigen Gemeinden Dassen, Dietershausen, Keulos, Wissels und im 2. Schritt Dirlos, Pilgerzell und Engelhelms dazu.

Wer die Sitzungsprotokolle der Ortsbeiratssitzungen liest, stellt fest, dass einige Themen seit fast 50 Jahren aktuell sind: die Verbesserung der Straßenbeleuchtung, verkehrsberuhigende Maßnahmen und die Umsetzung von Bebauungsplänen. Dieses findet sich auch in den Grenzregelungs- bzw. Eingemeindungsverträgen wieder.

 

Werfen wir nochmals einen Blick zurück und schauen uns die Entwicklung in Pilgerzell mit der Wahrnehmung und dem Rückblick in 2007 durch Dieter Wagner genauer an:

„Am 14. Februar 1971 stimmte die Pilgerzeller Gemeindevertretung einstimmig, mit 12 zu 0 Stim­men, für das Modell der Neugründung einer Großgemeinde Florenberg mit einer Auflösung der eigenen Gemeinde. Die Dinge nahmen aber in den folgenden Monaten einen anderen Verlauf. Was damals passierte, war Ursache und Anlass für jahrelange Differenzen bis hin zur offenen Feindschaft zwischen Künzell und Pilgerzell. Heute mit der zeitlichen Distanz von 35 Jahren wollen wir die wesentlichen Punkte dieser Aus­einandersetzung noch einmal Revue passieren lassen.

In der Sitzung der Gemeindevertretung vom 02.08.1971 in Künzell, war von einer Neugründung der Gemeinde Florenberg plötzlich keiner Rede mehr. Der Künzeller Gemeindevorstand und Bürgermeister Alfons Schwab, drängten auf die Eingliederung aller Ortsteile in die neue Großgemeinde Künzell. Begründet wurde es unter anderem damit, dass der hessische Innenminister der Eingliederung in eine bestehende Gemeinde eindeutig den Vorzug gegenüber der Gründung einer neuen Gemeinde gab. Außerdem würde bei der Variante Florenberg ein Staatskommissar eingesetzt werden müssen, der die alten Verwaltungsstrukturen auflösen und die neuen organisieren würde. Dadurch würde eine Art Stagnation eintreten und wertvolle Zeit für die Entwicklung der Großgemeinde ginge verloren. Auch juristische Begründungen wurden angeführt.

Aber für viele Parlamentarier und die meisten Bürger von Pilgerzell, Engelhelms und Dirlos waren diese Gründe vorgeschoben. Man war der Meinung, dass Künzell unter Ausnutzung unklarer Formulierungen im Auflösungsvertrag, seine starke Position behalten wollte.

Bei der Neugründung einer Gemeinde Florenberg hätten möglicherweise viele Künzeller ihre Posten und Ämter verloren. Heute noch sind nicht Wenige der Meinung, dass Künzell nie die Absicht hatte, der Großgemeinde Florenberg zuzustimmen, sondern auf Zeit spielte und mit seiner Überrumpelungstaktik die einzelnen Ortsteile über den Tisch zog. Bronnzell und Edelzell entschieden sich bekanntermaßen anders und schlossen sich der Stadt Fulda an. Engelhelms, Künzell, Keulos, Wissels, Dassen und Dietershausen stimmten der Eingemeindung in die Großgemeinde Künzell zu. Pilgerzell und Dirlos beharrten weiterhin auf der Einhaltung des Auflösungsvertrages und den Beschlüssen ihrer gemeindlichen Gremien. Man kann sich heute überhaupt nicht mehr vorstellen, wie vergiftet die Atmosphäre war und in welcher aggressiven Stimmung die Verhandlungen geführt wurden. Bei einem Treffen in der Florenberger Gastwirtschaft wäre es zwischen Delegationsteilnehmern aus Pilgerzell und Künzell um ein Haar zu Handgreiflichkeiten gekommen. Die verschiedenen Positionen standen nach wie vor unversöhnlich gegenüber. Mit dem Beschluss vom 26.10.1971 entschied sich die Pilgerzeller Gemeindevertretung einstimmig gegen die Eingliederung in die Gemeinde Künzell. Ein Schreiben vom Landrat Eduart Stieler vom 10.11.1971 an den Vorsitzenden des Pilgerzeller Gremiums, Robert Schultheiß, stellt einen weiteren traurigen Höhepunkt der Eskalation dar. Der Brief mündete in die Schlussfolgerung:

„Somit hat Pilgerzell nur noch zwei Möglichkeiten, entweder freiwillige Zustimmung oder unter Verlust aller finanziellen Fördermaßnahmen und Schlüsselzuweisungen zwangsweise Eingliederung in die Großgemeinde Künzell.“ Man kann den Inhalt dieses Briefes getrost politische Erpressung nennen. Für die Pilgerzeller Mandatsträger eine völlig ausweglose Situation. Schließlich ging es um Zuschüsse für die Kanalisation, die in Pilgerzell auf Grund des weit verzweigten Ortsnetzes noch nicht fertig gestellt war und 180.000,00 DM; die für einen geplanten Sportplatzneubau bereitlagen. Auch der Bau der Florenbergschule war plötzlich keineswegs mehr gesichert. Hier war auch Edelzell eine Variante. Besonders drastisch wurde diese Haltung noch einmal den drei Pilgerzeller Delegierten Robert Schultheiß, Ernst Bub und Kunibert Dehler bei einem Termin mit Landrat Stieler vor Augen geführt: keine Zustimmung - kein Geld.

Es ist heute, nach so vielen Jahren müßig, darüber zu spekulieren was passiert wäre, wenn Pilgerzell weiterhin stur geblieben wäre. Wie vergiftet die Situation nach dieser erpressten Zustimmung auch in Pilgerzell war, davon können die damals Verantwortlichen heute noch ein Lied singen. Familienfeiern wurden geschmissen, Mandatsträger in der Öffentlichkeit als „Künzeller Nuckmänner“ beschimpft, Freundschaften zerbrachen, es gab Parteiaustritte und die Gründung einer Wählervereinigung.“